Le Lotte nella Radio di Weimar – Kap.3 Sylvias Hauptrolle 18

Wohnen in einer Hochhausscheibe in Weimar-West mit einer Nummer an der Tür ähnelt dem Leben in einem Hotel. Nachbarschaft wird kaum gepflegt.

Nach Zeiten mit Hausbesitzerinnen, die morgens die Hände in die Hüften gestemmt auf dem Treppenabsatz gestanden haben, lässt es sich Tom gefallen. Einige Bewohner neigen dazu, am Eingang, am Aufzug, vor den Treppenaufgängen, überall dort wo es enger wird, Cluster zu bilden. Tom respektiert es. Ein Paketbote klingelt, die Nachbarin … er meint irgendjemanden auf dem endlosen Flur … die Nachbarin sei gerade nicht da, ob Tom nicht ein Päckchen entgegen nehmen könne. Warum nicht ein wenig Hilfsbereitschaft zeigen? Tom willigt ein.

Der Bote muss sein Entgegenkommen geschätzt haben. Ein zweiter Paketbote, der zweite überhaupt in der Zeit, in der er hier wohnt, klingelt. Der Nachbar sei gerade … er werde eine entsprechende Nachricht im Briefkasten … ob Tom nicht vielleicht … das ist aber wirklich nett … Tom macht es nichts aus.

Paketboten sind arme Hunde, schlecht bezahlt. Andere Paketboten klingeln, deponieren Pakete. Nachbarn erkundigen sich, holen ab. Tom findet nicht gleich das passende Paket.

„Schätze, jetzt haben Sie ein Problem.“ Einer tippt mit der Schuhsohle. Er lehnt in der Tür und trommelt mit den Fingern auf die Türlaibung. Er hat genuschelt. Beim zweiten Mal, den Namen artikuliert ausgesprochen, versteht Tom. Er greift das Paket.

„Werden die Pakete auch bis an die Wohnungstür geliefert?“ Eine ältere Frau spricht unberührt von ihrer Frage. Sie muss ihre Mimik verloren haben. Sie steht asymmetrisch gebeugt. Ihre Perücke, Typ ‚Doris Day‘, mit Tolle über der Stirn, ist über den oberen Teil des rechten Ohrs gezogen. Sie kann ihren Karton, der nicht schwer aber sperrig ist, nicht tragen. Was bleibt Tom übrig, „Wir liefern auch bis zur Wohnungstür.“

Mit der Geste, sie möge bitte vorweg gehen, nimmt er das Paket. Sie zuckelt los. Ihr Laufrhythmus ist synkopisch verzögert. Ein florales Parfum verbindet sich mit einer menschlichen Note zu einem Odeur. Im Lift gewinnt es noch an Intensität. Haltestellen sind in der dritten, der sechsten und der neunten Etage. Sie steigen in der sechsten aus. Über den langen Flur werden in beide Richtungen das siebte und das fünfte OG über kurze auf- oder abwärts führende Treppen erschlossen. An einer Nebentreppe, mit Mosaiksteinchen gefliest, liegen nur zwei Wohnungen. Blumentöpfe sind trotz des spärlichen Lichts aufgestellt, Bilder zieren die Wände. Die oben zu erwartenden Appartementnummern sind in Graffiti-Manier auf den Putz gemalt. Die Bewohner identifizieren sich. Nicht zu vergleichen mit der Anonymität in den Fluren unten vor Toms Appartement im EG.

Er geht, um nicht in die Bugwelle aus Düften zu geraten, ein wenig voraus. Er findet die Appartementnummer der älteren Dame zum 7.OG, steigt die Treppe hoch, stellt den Karton vor ihrer Wohnungstür ab und kommt ihr entgegen. Sie knurrt und fuchtelt mit den Händen. Er versteht, dass sie andeuten will, er solle mitkommen. Er fügt sich. Die alte Dame verschwindet in ihrer Wohnung, kommt wieder heraus und streckt ihm eine Schachtel Pralinen entgegen. Er hält die Hände hoch, wehrt ab, sagt: „Das war doch selbstverständlich, Sie sind doch zu nichts verpflichtet. Ich habe es gerne gemacht.“ Sie knurrt erneut und sticht mit der Schachtel. Er bedankt sich. ‚Pralinés Classic’ – Confiserie für Kenner, steht auf der Packung von Lindt. Sie ist nicht versiegelt. Das Papier ist unversehrt. Er schiebt es beiseite. Zwanzig, dreißig Pralinen strahlen ihn an. Die große Auswahl! Er wägt ab. Krokant gegen Nougat, ein Oval mit einer Mandel gegen einen Stern mit kandierten Nussraspeln. Design und Farbgebung von zwei Hütchen stechen aus dem Arrangement heraus. Ein Anthrazit, das durch ein Ausblühen in helleren Flecken fast hellgrau wirkt. Tom erkennt die Gattung. Es sind Pfefferminz-Hütchen. Man bekommt sie in Hundert-Gramm-Tüten für ca. eins-fünfzig im Supermarkt. Tom erinnert sich an einen Aufkleber auf solch einer Tüte. Hellgraue Verfärbungen könnten sich in Ausnahmefällen bilden. Qualität oder Geschmack würden dadurch nicht beeinträchtigt.



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