Blog-Konzept

Als hätte jemand ein gehöriges Stück aus einer Torte herausgeschnitten, erlaubt Weimars Stadtgrundriss, vom Zentrum, dem Marktplatz und dem Schloss aus, zu Fuß, ohne auch nur auf ein einziges Gebäude zu stoßen, einen Weg in die weite Landschaft der Wiesen, Felder und Wälder zu finden. Die Stadt ist, ausgehend von den gedrungenen Wohnhäuschen rund um die Jakobskirche, im Laufe der Zeit gewachsen. Die Jahrhunderte haben in außen an die Stadt angegliederten Stadtteilen ihre gebauten Zeugnisse hinterlassen. Großformen sind Identität stiftend platziert worden. Die Stadtkirche St. Peter und Paul bezeugt protestantische Gottesfurcht, das Schloss gebietet Respekt vor der fürstlichen Herrschaft, im Neuen Museum wird dem Bürgertum Anerkennung für sein Bildungsbestreben erwiesen und der Bahnhof wird zum Ausdruck neu gewonnener Mobilität.

In der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur ist das Geflecht um die Altstadt und den Asbach-Grünzug aufgebrochen worden. Das Gauforum  beansprucht eine Fläche, wie sie sonst mehrere Wohnblocks einnehmen. Als undurchlässiger Querriegel wird es zwischen Bahnhof und Innenstadt geschoben. In enger Korrespondenz mit einem vorgelagerten Teil Weimars, dem KZ Buchenwald dient der Herrschafts-Komplex dem Terror und der Kontrolle der Bevölkerung. In unmittelbarer Nachbarschaft wird in den frühen siebziger Jahren ein Studentenwohnheim der Bauhaus Universität, (damals ‚Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar, HAB‘) errichtet. Der gigantomanische Maßstab des Gauforums in der Fläche wird in der Vertikalen und Horizontalen einer Hochhausscheibe als Wohnstätte für den wissenschaftlichen Nachwuchs aufgenommen. In derselben industriell vorgefertigten Bauweise, teilweise ebenfalls im Hochhausformat, wird die Stadt in der Peripherie um etliche Wohnbaugruppen und Wohnsiedlungen erweitert.

Die stadträumlichen Gesetzmäßigkeiten erklären einige Erscheinungen des heutigen Weimar. Sie ließen sich beliebig vertiefen. Es sind jedoch nur die Stein gewordenen Zeugnisse der Stadt, die damit bestimmt werden können. Sie machen nur einige der vielen Facetten der Stadt aus.

Weimar liegt in der geographischen Mitte Deutschlands. Alle größeren Städte gruppieren sich in einer Entfernung von wenigen Autostunden um Weimar herum. Auch innerhalb des Thüringer Agglomerationsraums (heute ‚Impuls-Region‘ genannt), Erfurt-Weimar-Jena, bildet Weimar das Zentrum.

Politische und kulturelle Entwicklungen in Deutschland haben von Weimar aus ihren Anfang genommen. Vater und Sohn Cranach lebten hier. Luther frequentierte es. Bach verbrachte eine lange Zeit seines Lebens in Weimar. Die Klassiker, Goethe, Schiller, Herder, Wieland, Lenz waren hier zumindest zeitweise zu Hause. Nietzsche, Liszt folgten. Die Herzogin, Anna Amalia, hat als erste das kommunikative Konzept des ‚Salons‘ von der Bourgeoisie aus der französischen Aufklärung übernommen. Ihre Gesprächsrunden im Weimarer Wittumspalais wurden tonangebend im deutschsprachigen Kulturraum. Vorbereitet von Harry Graf Kessler und van de Velde formierte sich ‚das bauhaus‘ zu einer Bewegung, die rund um den Globus schwappte. Die erste Deutsche Verfassung wurde aufgestellt und verkündet. Eine nationalsozialistische Bewegung um einen Adolf H. entstand. Weimar wurde zu einem zentralen Ort der Bewegung und mit dem KZ Buchenwald zur Stätte der bis dahin größten staatlich organisierten und in industrieller Perfektion ausgeführten Verbrechen.

Nach dem Krieg standen sich zwei Machtblöcke in einem kalten Krieg gegenüber. Deutschland, als Staat in dieselben zwei Herrschaftsbereiche wie die übrige bipolare Welt geteilt, schien der sensibelste Punkt, die Sollbruchstelle in dem globalen Netzwerk darzustellen. Umso größer die Erleichterung als sich die Konfrontation in Vereinigung wandelte.

Weimar verschrieb sich der Einheit als Prozess, der Vereinigung. Es schwang sich auf, die Vertreter Frankreichs, Polens und Deutschlands zu einer „Gemeinsamen Erklärung zur Zukunft Europas“ zu animieren. Auch als die Gesprächsrunde an anderen Orten fortgesetzt wurde, hielt sich weiterhin die Bezeichnung „Weimarer Dreieck“. Als Kulturstadt Europas konnte Weimar zur Jahrtausendwende die Idee der Einheit gleich in alle europäischen Staaten und darüber hinaus tragen.

Nicht nur in geometrischer Hinsicht, auch ideell kann Weimar als der Schwerpunkt Deutschlands betrachtet werden.

Vielleicht außer einem Adolf H. in seinen Kurzaufenthalten, sind die Größen in Weimar zu Lebzeiten jeweils mit Misstrauen, wenn nicht mit Ablehnung bedacht worden. Sie sind, zumindest länger als ihre erklärte Absicht, in Weimar geblieben. Irgendetwas, eine unbeschreibliche Kraft hat sie gehalten. Schon seit Jahrhunderten verfügt Weimar über dieses Faszinosum. Gegenstand dieses Blogs soll diese ambivalente, von Weimar ausgeübte Magie sein.

Eine Herrschaftsform wird durch eine neue abgelöst. Das bedeutet nicht, dass die alte verschwindet. Wie in einem Rumtopf wird sie, ebenso wie die darunter, nur überdeckt, verliert ein wenig Farbe und behauptet aller Fremdeinflüsse zum Trotz ihr Aroma. Im zeitgenössischen Weimar ist noch eine auf standesgemäße Privilegien gründende Arroganz lebendig. Völkisches Bewusstsein im Umgang mit Eingereisten, Anspruch auf Fürsorge und Gehorsam gegenüber staatlichen Ämtern besteht. Vergangene Gesellschaftssysteme sind noch bis in Details zu spüren, nicht nur im Umgang mit Macht, sondern ebenso in der Sprache, in Essgewohnheiten, in kulturellen Erscheinungen, im Umgang miteinander.

In einer Stadt sind Menschen in größeren Gruppen erfahrbar. Die Stadt hat einen Kreislauf, die städtische Öffentlichkeit. Sie hat Organe, ihre kommunikativen Zentren, kultureller, politischer oder wirtschaftlicher Art, in denen sich das städtische Bewusstsein eine öffentliche Meinung bildet. Das Phänomen, das Jürgen Habermas als ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ beschrieben hat, ist längst weiter vorangeschritten. Neue Medien sind hinzugekommen. Kommunikation findet heute auf Plätzen oder Flaniermeilen im virtuellen Raum statt.

In Weimar ist inmitten dieses städtischen Geschehens ein demokratisches Element eingesetzt worden. Ein Rundfunksender, traditionell öffentlich rechtlich oder privat geführt, lädt als Stadt-Radio seine Bürger ein, sich einen Ort zu schaffen. Die Vorgänge um dieses Medium sollen zum Ausgangspunkt einer Erzählung werden. Der Protagonist begreift das Radio als Instrument, um damit zusammen mit einem Redaktionsteam in Dialog mit der Stadt zu treten. Die Sprache seiner Berichte ist geschriebener und gesprochener Text samt Hintergrund-Klängen und -Geräuschen. Er vermittelt Informationen in einer Magazinsendung. Analog wird die Erzählung in wechselnden kurzen Einheiten, etwa der Größe von Radiobeiträgen, die sich thematisch und formal voneinander absetzen, Mosaik artig aufgereiht. Von Dialog über Bericht, Rückblende, Fiktion bis hin zu direkter Übertragung der Alltagssprache reichen die Erzählformen. Erst in der Vielzahl bilden sich Konturen ab, können Facetten zu Flächen und Strängen zusammengesetzt werden. Der Arbeitstitel lautet, ‚Le Lotte nella Radio di Weimar‘. Eigenes Material aus dem Radioprogramm, auf das die Erzählung gründet, ist in  Form von Tonaufzeichnungen rund um die Erzählung abrufbar.