Le Lotte nella Radio di Weimar – Kap.4 Patricia Herberger 16

Neben Tom auf dem Balkon, ein junger Soziologe, er zieht am Haaransatz in der Mitte der Stirn eine Tolle zu einem spitzen Pinsel nach oben. Aus einer Welt der Arbeitslosigkeit heraus ist er aufgetaucht.

Er wiederholt die Bewegung auf seinem ansonsten kahl geschorenen Schädel. Die Tolle steht. Ein wenig staatliche Unterstützung für die Arbeit in der Redaktion bleibt zu vermuten. Philosophie hätte er im Nebenfach studiert. Tom deutet auf die Menschen unten auf dem Platz: „Die Öffentlichkeit hat ihre Struktur gewandelt.“

Der junge Soziologe lacht über die Irritation hinweg. Tom mustert ihn von der Seite. Er hat Straßenköter blondes Haar. Über seinem Ohr eine Hautreizung, wahrscheinlich vom Kratzen.

Tom grübelt. Tim! Ihm fällt es ein. ‚Tim‘ heißt der Comic-Held, sein Hund Struppi, ‚Tim und Struppi‘ werden die Comic-Bändchen genannt. Er hat ihn vor sich. Tim, ein Belgier, im Original ‚Tintin‘. Er hat sich konzentrieren müssen.

„Jürgen Habermas konnte sich damals mit seinem ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ nicht habilitieren. Horkheimer hat Theodor Adorno gegenüber Bedenken geäußert.“ ‚Gegenüber einem Neuen den Dicken machen‘, ist sich Tom bewusst, wurde so ein Ritual, wie er es gerade vollführte, auf dem Schulhof genannt. Die Prüfung konnte wahlweise mit, auf die Füße treten, stoßen, in den Schwitzkasten nehmen, ergänzt werden. 

Der junge Soziologe nickt.

„Er musste nach Marburg, zu Wolfgang Abendroth, Marburger Schule, zu den ‚Politologen‘ gehen. War ja nicht weit von Frankfurt entfernt. Abendroth hat seine Arbeit mit offenen Armen entgegen genommen.“

Der junge Soziologe räuspert sich. Er guckt gebannt über den Platz hinweg. „Wir haben das alles mehr so mit Michel Foucault gemacht.“

„Michel Foucault, der arme, ein HIV-Opfer“ Er gehört nicht zu Toms Schwerpunkten. Nach der Kritik Sartres hat er sich ihm gegenüber bedeckt gehalten. „Kein Max Weber, kein Theodor W. Adorno?“

„Doch schon, ich kenne die natürlich, aber weiter vertieft haben wir die nicht.“

Tom erinnert sich, „Eine von Foucaults Arbeiten befasste sich mit der Anerkennung und gleichzeitig Instrumentalisierung des Wahnsinns als Krankheit. Zur Ausübung einer Gewaltherrschaft wird mittels Hospitalisierung des Wahnsinns die Vernunft in Anspruch genommen. Es hat dazu geführt, dass Strafgefangene im Namen der Aufklärung kontrolliert werden konnten.

„‚Wahnsinn und Gesellschaft‘, ein frühes Werk, es ist ziemlich zentral.“, bestätigt der junge Soziologe mit dem Tintin-Image.

„Während ich mir noch mit Habermas das Hirn über den Wandel der öffentlichen Struktur verrenke, bist Du bereits hinter der Ziellinie des Strukturalismus angekommen. Willkommen im Club, ein Poststrukturalist!“

Er freut sich. Die Tintin-Tolle am Haaransatz in der Mitte der Stirn, findet Tom, verleiht ihm etwas Freches.

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