Die Veranstaltung fiel auf einen Samstag. Sie war für den Vormittag von elf bis eins im Sendesaal des Stadtradios angekündigt worden. Jeder Hörer sollte sich aufgefordert fühlen, entweder vorbeizukommen oder die Live-Übertragung zu Hause zu verfolgen.
Tom gliederte das Podiumsgespräch in dieselben drei Fragenkomplexe wie die Beiträge zuvor.
Mit den ersten Fragen zu Urheber, Zeitpunkt des Beginns und Qualität der Umwälzungen entbrannte die Diskussion. Man hatte das Gefühl, als hätte sich etwas aufgestaut. Kernthesen:
– Angefangen mit dem Umsturz hätte es am 17. Juni 1953. Fortgesetzt worden sei es in den 70ern und verstärkt mit dem NATO – Doppelbeschluss.
– Warum so kompliziert? Junge Leute wollten ihr Ding machen, das sei der Antrieb gewesen.
– Man sollte auch die negativen Impulse für den Umbruch berücksichtigen! Der Staat hat mit seinem ‚neuen ökonomischen System’ die Verhältnisse niedergeritten, so dass man 1983 einen durch Franz Josef Strauß eingefädelten Milliardenkredit in Anspruch hat nehmen müssen.
– Der Sozialismus war nicht von sich aus unterlegen. Man hat den Staatsbürgern keine Reisefreiheit gewährt. Das sei das Problem gewesen.
– Alles Unfug! Der Beginn des Untergangs war mit der Gründung des Staates gelegt worden. Diktatur des Proletariats und Demokratie, wie im zweiten ‚D’ von Deutsche Demokratische Republik angezeigt, das geht einfach nicht zusammen.
– Das Selbstbewusstsein der Bürger war unterdrückt worden. Man musste sich der Lenkung durch die Obrigkeit unterordnen. Das war der Geburtsfehler.
– Das Ziel war ein dritter Weg, einen besserer Sozialismus
– Ein demokratischer Sozialismus.
Ein Zahnarzt im Ruhestand meldete sich aus dem Publikum.
– Auch das mit dem Sozialismus war Lüge, die DDR war eine Herrschaft der Angst gewesen.
Ottmar Schmieling meldete sich aus dem Saal. Er hatte eine etwas komplexere These.
– Heute werde nur der, der sich dazu bekenne, dass die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei, zu einem öffentlichen Diskurs zugelassen und angehört. So falle die Frage nach den Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb des Sozialismus unter den Tisch.
Ottmar Schmieling war der Einzige, der den Begriff ‚Unrechtsstaat’ gebrauchte. Tom ging nicht darauf ein. Der Begriff war, wie er fand, zweifelhaft.
Dass sich auch der Staat im Unrecht befinden kann, ist ja gerade ein rechtsstaatliches Prinzip. Ein Rechtsstaat ist kein Staat, wie man meinen könnte, der immer im Recht handelt. Im Gegenteil, wurde abends im Nero gespottet, gerade das Recht des Einzelnen, den Staat in diesem Sinne vor Gericht zu ziehen, des Unrechts zu bezichtigen, verklagen und maßregeln lassen zu können, ist das, was einen demokratischen Staat mit einer demokratischen Verfassung ausmacht.’
Tom hatte Ottmar Schmieling gebeten, im übrigen Programm Werbung für die Podiumsdiskussion zu veranlassen. Er hatte nichts gemacht. Zu der Veranstaltung stellte er seinen Wartburg, den er einmal als Gag für eine Performance gekauft hatte, quer vor den Eingang. In den Autofenstern hatte er hinter Glas seine damalige Aktion in Texttafeln und Fotos dokumentiert. Darunter ein überteuertes Preisangebot für das Auto. Er fing die Diskussionsteilnehmer am Eingang ab und führte seinen Gebrauchtwagen vor.
Tennessee und die übrige Redaktion hatten von der Veranstaltung keine Notiz genommen. Nur zwei Praktikantinnen waren gekommen. Der Manager war zu Beginn im Hintergrund herum gewimmelt und dann wieder verschwunden. Dem Techniker hatte Tom mit der Veranstaltung einen zusätzlichen Einsatz an einem Feiertag verpasst. Er maulte. In der Veranstaltung regelte er an seinem Mischpult mit dem Rücken zum Podium und verließ den Saal. Mehrere Wortbeiträge vom Podium waren übersteuert. Er stürzte, um noch einigermaßen zu retten, immer wieder zu spät in den Saal. Ottmar Schmieling war immerhin zu der Diskussion erschienen. Am Ende der Veranstaltung kam er auf Tom zu. Er wiederholte ein Kompliment, das Tom ihm gegenüber nach einem Interview mit der Ministerpräsidentin gemacht hatte, ‚Respekt, Kollege!’