Die Entscheidung war gefallen. Sylvia, eine Schauspielerin, werde demnächst, gab Ottmar Schmieling bekannt, an der Spitze des Stadtradios stehen. Tom kannte sie. Sie war Mutter eines fünfjährigen Söhnchens. Dass sie mit George Tabori zusammen gearbeitet hätte, hatte ihm imponiert.
Erneut darauf angesprochen relativierte sie. Nicht mit ihm selbst hätte sie sich beschäftigt, sondern sie hätte ein Bühnenwerk von ihm bearbeitet. Es war ein Stück aus den 70ern. Er hatte es nach Protokollen eines Seminars von Fritz Perls, (Friedrich Salomon Perls – auch Frederick S. Perls) einem Psychotherapeuten und Begründer der Gestalttherapie gemacht. In den 80ern hatte George Tabori aus dem Material ein Hörspiel in einer RIAS-WDR-Produktion gemacht. Er war ebenso wie Fritz Perls Anhänger der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Er nannte sein Stück „Sigmunds Freude“.
Tom hatte es seinerzeit im Radio gehört. Es hatte ihn so beeindruckt, dass er es, als er im Gespräch mit Sylvia zufällig darauf stieß, noch in Teilen präsent hatte. Dabei muss das Missverständnis, Sylvia hätte zu George Taboris Truppe gehört, entstanden sein.
Wie sie ihm jetzt erklärte, hatte sie das Stück in ihrem Schauspielstudium in den späten 90ern in München umgesetzt. In einer Gruppe von fünf Schauspielstudenten hat es gegolten, in Wechselbeziehung mit der Therapie-Gruppe einer nach dem anderen eigene Konflikterfahrungen darzustellen. Versetzt mit persönlichen spontanen Elementen, wurde es zu einem Theaterfestival auf die Bühne gebracht.
Sylvia konnte sich immer noch darüber amüsieren: „Wir haben in unserer Gestalttherapie so authentisch gewirkt, dass einer aus dem Publikum hoch auf die Bühne gekommen ist und gefragt hat, es würde doch hoffentlich nichts ausmachen, auch er wolle sich mit seinen eigenen Konflikten in die Gruppe einbringen.“
Kurz vor ihrer Bewerbung zur Programmchefin hatte sich Sylvia von ihrem Ehepartner getrennt.
„Da gab es kein Einvernehmen! Sie hat mich verlassen“, raunte ihr Ex Tom in einer Tischrunde einer Verabschiedungsfeier für mehrere Praktikanten zu. Sie schlichen mit einem Abstand umeinander herum und nahmen noch an dem einen und anderen Ereignis gemeinsam teil. Sie hatten sich im Westen kennen gelernt und hatten hier geheiratet. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei den Mediengestaltern an der Uni. Sie musste da mittlerweile auch einmal hinein gehört haben. Sylvia setzte ihn als Moderator ein und vermittelte ihm Jobs als Leiter von Kinder- und Jugendgruppen in sozialpädagogischen Radioworkshops, wie er ihr Jobs bei den Mediengestaltern zuspielte. Abgesehen davon betreuten sie natürlich im Wechsel ihr Söhnchen. Ihr Ex hatte etwas mit einer Studentin aus der Musikredaktion laufen. Sylvia bekam davon Wind. Sie überschaute sowohl seine als auch deren Dienstzeiten. Die Zeit, in der er sich mit der Studentin hätte treffen können, überschnitt sich immer häufiger mit der von Sylvia verordneten Zeit zur Betreuung des Kleinen.
Sylvia hatte früher einmal im Radio eine Zeit lang als Sprecherin der Lokalnachrichten ausgeholfen. Mit einem Text in der Hand war sie unschlagbar. Die neue Rolle als Programmchefin dagegen war unbestimmt. Sie tastete sich vorwärts. Nicht eine kleine Bühnenanweisung war zu finden. Wie wird geplant, wie wird koordiniert, wie soll ein Programm gestaltet, gepflegt, aufgestellt werden?
Oft purzelte ihr Söhnchen, ein Kerlchen mit blondem Schopf und melancholischen Augen, um sie herum. Alle mochten ihn, aber keiner konnte überspielen, dass er, wo immer er sich auch im Sendegebäude bewegte, im Weg war. Sylvia musste wohl irgendwie eine Art Lehrauftrag bei den Mediengestaltern abgegriffen haben. Zusammen mit Hochschullehrern und akademischen Fachkräften der Uni prüfte sie einen der Mitarbeiter des Stadtradios, einen Studenten der Medienwissenschaften. Sie nahm dazu das Sendegebäude in Anspruch. Ihr Prüfling hatte mit den Prüfern im Hintergrund das Vormittagsmagazin moderiert, eine Fertigkeit, über die sie selbst nicht verfügte. Er wollte einen Bachelor-Abschluss in Mediengestaltung ablegen. Sie zogen sich in den Sendesaal zurück. Der Prüfling kam heraus, nach einer Weile folgte die Kommission. Einer verabschiedete sich, zwei gingen mit Sylvia ins Programmchefinnenräumchen. Sylvia zog die Stirn kraus. Sie deutete an, man habe ihn nur gerade eben noch einmal knapp durchkommen lassen können.