Im zentralen Hotel gibt es für 220 € ein fünfgängiges Menü, Friedrich von Thun soll lesen. Er ist leicht erkältet. Im Vorab auf seinem Zimmer im Interview bittet er mich um Kürze. Warum er seinen Hochadel-Grafen unter einem bescheideneren „von“ verstecke. ‚
Friedrich von Thun oder eigentlich Friedrich Graf von Thun und Hohenstein erklärt kurz und geduldig. Die Antwort gibt er, das merkt man, nicht zum ersten Mal. Meine folgende Bitte, den Begriff Genuss zu klären, macht ihm mehr Spaß.
Im Foyer Begrüßung durch den Hoteldirektor. Champagnerkelche klingen. Man hat vorbestellt. Eine kurvige Endvierziger Blondine mit Dekolletee und gebauschtem Rock bis knapp übers Knie schart Silberhaare um sich herum. „Eine Tochter von Gina Lollobrigida?“ „Sie meinen wohl Enkelin.“, pariert sie. Zu weit vorgewagt! Den Punkt kann ich nicht für mich verbuchen.
Die schweren hohen Flügeltüren des Poetensalons werden geöffnet. Fünf runde Tische für jeweils zehn bis zwölf Gäste sind gedeckt. Tafelspitz-vom-Kalb-Terrine auf Belugalinsen, kleiner Gruß aus der Küche als Amuse Bouche außerhalb der angekündigten Folge, Aperitif. Der Küchenchef gibt einen kurzen Ausblick. Carpaccio von Hummer und Avocado kombiniert mit Eis von der Amalfi-Zitrone und Basilikum-Öl. Das Durchschnittsalter liegt knapp über sechzig. Kleine Aufmerksamkeiten und Komplimente werden ausgetauscht. Eine Armee von livrierten Kellnern servieren synchron pro Tisch. Auf Kommando per Blickkontakt reißen sie über die Teller gestülpte versilberte Gloschen hoch und lassen sie verschwinden. Raffiniert zubereitete Elemente in Pralinengröße bilden auf einem Überformat-Keramik-Teller ein farbig abgestimmtes Arrangement. Saucen sind nach Art des Jackson Pollock gekleckst, intermoduliert mit pürierten Massen in Spachteltechniken. Auf geometrische Grundformen reduzierte Gemüsezitate vervollkommnen die Installation. Aus dem Nirgendwo von links hinten wird ein Riesling von der Saale/Unstrut in etwa doppelten homöopathischen Dosen nachgeschenkt. Man schwenkt, versenkt Nasen, schmatzt Wein. Zur Gänsestopfleber im Dialog mit dem Rhabarber ein Moscato d’Asti aus dem Piemont.
Friedrich von Thuns Auftritt. Vor ihm ein Stapel Bücher. Er liest Kritisches von Nietzsche über die deutsche Küche. Für zweihundertzwanzig Euro soll etwas geboten werden. Fagottini von Ricotta und Spinat mit Oktopus, Taggiasca-Oliven und Kapern. Friedrich von Thun brilliert in dem Monolog eines Wiener Säufers, den er nicht nur liest, sondern für die Dauer seines Vortrags verkörpert. Der Küchenchef empfiehlt sich mit seinem Team. Lamm von einem Züchter aus der hiesigen Gegend wird aufgetragen mit Karree aus Petersilienpüree und gratinierten Zwiebeln. Zum Dessert lässt der Spätherbst nur noch exotische Früchte von der Sonnen beschienenen Seite des Globus zu. Wer will, kann sich abschließend in die Lounge-Bar, eine Raucher-Oase, begeben. Ich lasse mich nicht zweimal bitten. Hinter dem Eingang zur Bar ein Butler der Firma Davidoff mit einem Sortiment. Er meint mit einem abgenutzten Lächeln, eine Zigarre müsse man wie eine schöne Frau behandeln. Ich halte dem Tabakdiener ein Mikrofon vor den Mund und schraube mir eine Monte Christo Nr.2 in den eigenen. Friedrich von Thun sitzt an der Bar. Er hat sich umgezogen, Bluejeans und einen orange Rollkragenpullover. Bisher war alles aufs Haus gegangen, jetzt bin ich selbst wieder dran. Ich bestelle ein Bier. Unter den Gästen ein mir bekannter Pianist und ein Professor der Medienwissenschaften. Er hat vor Gericht ein Gutachten zu irgendeiner der vielen performativen Schlingensief-Provokationen abgegeben. Eine Brünette räkelt sich an seinem Hals. Insgesamt sind fast alle, was ich nicht übermäßig schätze, übers Verfallsdatum hinaus. Es stößt einen zu sehr auf das eigene Altern an. Ich trinke aus, deute Friedrich von Thun ein ‚Gute Nacht’ an. Der nickt freundlich und etwas erschöpft. Mit der Havanna im Mundwinkel schlage ich den Weg zum Nero ein.