Ottmar Schmieling tritt vor die Redaktion. Er stellt sich kurz vor, Studium der Betriebswirtschaft, Mitarbeit bei einem Privatsender, Schwerpunkt Nachrichtenredaktion. Er blickt in die Runde, räuspert sich, reibt mit abgespreizten Ellenbogen, die Hände aneinander. Pendelschritte vorwärts und rückwärts, seine Lederabsätze klacken auf das historische Parkett des ‚Stadtradio – Sendehauses’.
Er sagt „So!“, mit kurzem „o“ und klatscht die Hände zusammen, „Liebe Kollegen, Mitarbeiter des weit über das Sendegebiet Weimars hinaus bekannten und gerühmten Stadtradios in Weimar!“
Aus einem gesenkten Blick heraus lässt er mit Schwung ein Lächeln in die Kurve der um ihn herum sitzenden Redaktion gleiten. Ohne Notizen, nur aus dem Hinterkopf heraus skizziert er einen Zeitplan mit Sondersendungen, Themenstunden, Klausur, Auftritten auf dem Volksfest, Medienpartnerschaften.
Stil ist das Gestaltungsmerkmal, mit dem man sich als Teil einer gesellschaftlichen Gruppe ausweist. Hier gelten in dieser Hinsicht andere Gesetzmäßigkeiten als ich es gekannt habe. Vorsicht ist geboten. Ein Maurerpolier hatte ein Auftreten wie ,Jean Luc Godard‘ oder zumindest das eines Künstlers von Format. Ein anderer, mit dem typischen Gehabe eines ,Hilfsarbeiters‘ mit Neigung zu Alkoholgenuss, hat sich als Professor der Kunstgeschichte erwiesen.
Typen wie den, der da vor der Redaktion herumturnt, die Sorte kenne ich. Einer, der es nach öffentlichen Vorträgen, ohne wirklich etwas los werden zu wollen, schafft, die erste Wortmeldung in den Raum zu setzen. Seine ,Soft-Skills‘ sind gecoacht worden. Ein Ego wie ein Fesselballon, sicher genug, um nicht in Überheblichkeiten zu verfallen, trotzdem einer, der versprechen könnte, ohne gleich wieder auszuweichen, Gesprächen standzuhalten.
Philipp hatte im ‚Nero’ behauptet, Ossis hätten nichts mit Stil am Hut. Die DDR hätte weder Klassen gekannt noch deren Rollenverteilung. Das Verhalten in den Stellungen, die zur Verfügung standen, wäre von vornherein festgeschrieben gewesen und hätte nicht durch irgendwelche Ausdrucksmittel überhöht werden müssen. Stil im landläufigen Sinne sei nicht benötigt worden. Die umfassende Gestaltung der Persönlichkeit von der Sprache über Bewegung, Kleidung bis hin zu Konsumgewohnheiten, die Inszenierung als Gesamtkunstwerk wäre, wie Philipp meinte, unbekannt gewesen. „Bei uns im Westen geht das hinunter bis zu den Bandarbeitern in der Fabrik. Kaum ist Feierabend, schwingen die sich auf ihr Motorrad und verwandeln sich von der Redewendung bis zu den Klamotten in einen ,Tarzan‘ oder einen ,Rambo‘. Kurz nach der Wende hat man doch immer wieder gehört, wir hätten alle im Westen ein Jahr Schauspielunterricht gehabt. Damit haben die diese Art von Stilausprägungen gemeint.“
„Mach’ mal halblang, Philipp! Wir hamm ja schließlich auch kein Führungskompetenz-Training bekommen. Außerdem hamm wir nicht an jedem Handgelenk ne Brilli-Roli und wedeln mit ’m Ferrarischlüssel.“
„Es geht doch nicht um Luxus alleine. Stil ist Verpackungskultur. Auch permanentes Einbringen von Fremdwörtern, Anglizismen, Begriffswahl, Satzbau, Imponiergehabe, Begrüßungsrituale mit Küsschen usw. sind Stilmerkmale.“
„Alles Blödsinn! Ossis und Stil, ihr spinnt wohl! Die sind Spießer, weiter nichts.“ Fred ist von seiner Ost-Geliebten und ihrem gemeinsamen Kreis abserviert worden. Jetzt haut er drauf, wo immer sich Gelegenheit bietet.
„Als ob die keine Jugendkultur gehabt hätten.“, hält ihm einer entgegen.
„Das war doch alles Nachhall auf Jugendkulturtrends aus ‚m Westen,“ erwidert ein anderer, „guck dir doch nur mal die Ex-DDR-Punks an! Die waren doch zunächst mal Asphalt-Cowboys, Mitternachts-Dandies, Bohémiens, überkommene elitäre Rollen von Intellektuellen. Viele von denen sind mittlerweile brave Durchschnittsbürger mit Bausparkassenvertrag und Mittelklassewagen geworden. Schon ab zweitausend netto aufwärts sind die handzahm übers Stöckchen gehüpft. Mit den walisischen Söhnen von alkoholabhängigen Straßennutten und Totengräbern hatten die doch noch nie was gemeinsam, die haben nicht einmal Sympathie für solche Typen.“
Fred muss noch Dampf ablassen: „Die hamm’ sich eingeklemmt gefühlt in ihrer DDR. ‚Erich mach die Grenzen uff!’, hamm’ se gebrüllt. Dann, als se endlich offen war’n hamm se en Schock gekriegt, weil se gemerkt hamm, durch offene Grenzen kann man nich nur raus, sondern da können auch welche rein. Die meisten wollten sofort wieder alles dicht machen und zurück auf ,Start‘. Und weil das nich’ ging, hamm’ se Bürgerwehren gebildet und hamm’ Asylantenheime angezündet.“