Alarm an alle, Mitarbeiter wie Hörer: Die NPD hat sich angesagt. An einem Wochenende soll eine Demonstration mit Kundgebung stattfinden. Die Wahl des Termins ist infam. Genau an diesem Tag, Anfang April vor 63 Jahren waren in den letzten Kriegstagen 149 Todeskandidaten der städtischen Gefängnisse in einem stadtnahen Waldstück erschossen worden.
Die Gefangenen waren Widerstand leistende Beschäftigte der Rüstungsindustrie, Zwangsarbeiter, Deserteure, angebliche Plünderer, KZ Häftlinge und Homosexuelle gewesen. Das Stadtradio empört sich. Bei der Landesmedienanstalt wird ausgehandelt, an diesem Samstag vom frühen Vormittag bis zum fortgeschrittenen Nachmittag außerplanmäßig Sendezeit zur Verfügung gestellt zu bekommen. Im laufenden Programm wird vorbereitet. Aufrufe aus allen Ecken. Jugendliche rufen die Jugendzentren auf, Stadtteilbewohner ihren Stadtteil, Studenten die Uni und alle zusammen die gesamte Stadt. Aufmarsch und Kundgebung der Neonazis soll unbedingt verhindert werden. Sitzblockaden sollen die angemeldete Marschroute verhindern. Produktdesigner der Uni wollen am Ausgangspunkt der Demonstration mit dem Slogan ‚Bunte Vielfalt statt brauner Einfalt’ bunte Socken auftürmen.
Ein Student hat als Abschlussarbeit ein Signet für die Nazigegner entwickelt. Angenommen ein Hakenkreuz sei aus zwei gekreuzten Latten hergestellt. An deren Enden seien vier halb so lange Latten angebracht um das Pluszeichen zu einem Hakenkreuz zu vervollständigen. Angenommen man lege die geschnittenen Latten quasi als Bausatz nebeneinander, zwei längere und vier der halben Länge daneben. Dieses Bild, ein Examens-Einser, ein schwarzes dekonstruiertes Hakenkreuz auf gelbem Grund, hat sich zum Erkennungszeichen empor geschwungen. Es wird als kleiner Button getragen und es ziert Flugblätter und Flyer.
In der Innenstadt sind Holztische als Tresen aufgebaut. Auf Tischtüchern aus Papier werden Kuchen angeboten, Kaffee aus Thermoskannen, Getränke aus Flaschen. Kupferkessel mit Eintopf dampfen. Die Aromen von brennenden Bratwurstrosten ziehen in Wolken durch die Straßenräume. Rund um Büchertische Cluster von Diskutierenden, Agitierenden, Informierenden. Muttis schieben Kinderwagen, Ältere halten sich am Rollator, Jugendliche gehen in Gruppen. Am Rand der Innenstadt auf dem Asphalt der Straße sitzen, Silberhaare darunter, Bürger, und skandieren ,Nazis raus– Parolen‘.
Auf einer Innenstadtringstraße zwingend, ohne Ausnahme in Schwarz, eine Gruppe, die sich ‚Antifa‘ nennt. Auch die Gegenseite, Helm und Knüppel präsent, die mobilen Einheiten der Polizei, Dresscode schwarz, kleines Demonstrationsbesteck, Kampfsportler im Einsatz zum Schutz des Staatswesens. Sie wissen, was sie dem Anlass schulden.
Die Redaktion ruft, wie verabredet, auf dem Mobiltelefon an. Ich beschreibe, beantworte Fragen, werde von ihnen über den Äther direkt auf die Empfangsgeräte der Stadt geschickt. Die Situation darzustellen, ist sinnvoll.
Ein Termin steht an. In einem historischen Gebäude hatte sich das Gestapo-Hauptquartier befunden. Von hier aus wurden jene Gefangenen abtransportiert, die am 5.April 1945 im Stadtwald erschossen worden waren. Reden werden gehalten, erst der Oberbürgermeister, dann ein evangelischer Pfarrer, dann ein Historiker, dann einer vom Bund der Antifaschisten und den Verfolgten des Nazi Regimes, der schon seit 1945 besteht. Für jeden der Ermordeten wird auf ein Feld aus den zum Gedenken erhaltenen geschredderten Überresten einer Folterbaracke der Gestapo eine Blume gelegt. Eine Schülerin verliest jeweils einen Namen, 149 Mal. Die Stadt draußen ist in Bewegung. Hier legt das vergangene Ereignis Ruhe über die Anwesenden, die Offiziellen und die Besucher. Eine alte Dame im Kreis ihrer Freunde verfolgt das Geschehen. Ich gehe auf sie zu. „Entschuldigen Sie bitte! Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“
Sie schenkt mir aus einer hellwachen Klugheit heraus einen Blick. Sie nickt. Ich weiß, worauf meine Fragen hinauslaufen sollen. Ich fange allgemein an, „Was ist bitte der Anlass, warum Sie heute hierher gekommen sind?“
Das Metallsieb an der Spitze des Mikrofons vor ihrem Gesicht, fällt mir auf, ist schmutzig. Meine Frage hat einen Raum von erschreckender Tiefe geöffnet.
„Hier wurde mein Bruder ermordet.“
Ich lasse das Mikrofon sinken, ich verneige mich, nicke, verneige mich erneut und gehe. Ich gehe, ohne auf Passanten zu achten, zur Redaktion. Erst in dem ,Alten Gymnasium‘, einem dreigeschossigen, alten Schulgebäude aus dem 18. Jahrhundert, halte ich inne. Entgegen den schon ganz angenehmen Außentemperaturen haben die Mauern des Foyers im Erdgeschoss die Kälte gehalten. Radiobeitrag heißt schnelle Information. Ich habe keine O-Töne. Den Satz mit der Ermordung des Bruders will ich, ich weiß nicht warum, auf keinen Fall an irgendjemanden weitergeben. Ich muss mir etwas einfallen lassen. Die Ausnahmesendezeit wird schon bald abgelaufen sein. Einen Aufsager machen zu wollen, bedeutet, dem Moderator erst einmal Fragen in den Mund zu schieben. Die scheinbare Aufmerksamkeit des Fragestellers, so geht das Spiel, wird immer von dem Befragten selbst vorgegeben. Der Monolog, den man im Kopf hat, muss in einen Dialog umfrisiert werden.
Ich bleibe in der Vorhalle des ,Alten Gymnasiums‘, in der sich die Senderäume befinden, vor einem wandhohen Mosaik stehen. Vor einem weißen Hintergrund hält ein Mann eine über die gesamte Bildbreite wehende rote Fahne, fast schon ein Banner, neben ihm ein stilisierter Baum und über die gesamte linke Seite eine Parole.
Ich betrachte die Wörter, die Linien und Flächen. Das Mosaik ist aus etwa Frühstücksbrettchen-großen Keramikfliesen gearbeitet. Auf einer Fliese mit dem Hintergrundweiß ist mit Filzstift ein Spruch gekrakelt. Ich wische mit dem Finger über die offenbar wischfesten Linien der Schrift. Unvermittelt wende ich mich dem Sendestudio zu, öffne die Tür und gehe ans Mikrofon. Der Moderator soll mich ganz einfach nur, was ich von der Gedenkveranstaltung zu berichten habe, fragen. Ich gebe zum einen die Reden wieder und zum anderen stelle ich das vergangene Morden dar. Den Satz der alten Dame behalte ich für mich. Ich gehe wieder nach draußen. Petra kommt aus der Tür der Redaktionsräume.
Sie sagt „Gut“
„Was?“
„Dein Beitrag eben war gut.“
„Es war doch nur ein monologischer Aufsager, dazu auch noch spontan.“
„Eben deshalb. Die Fähigkeit, aufnehmen zu können, ist Voraussetzung, um die richtige Form, etwas wiederzugeben, zu finden.“
„Willst Du wissen auf welchem Weg es vorwärts geht?“
Petra schaut mich an.
„Mit Goethe und Marx.“ Ich deute auf das Mosaik.
Wenn ihr wissen wollt
Auf welchem Weg
Es vorwärts geht
So müsst ihr
Goethes Faust und
Marx’ Kommunistisches
Manifest lesen Walter Ulbricht
Ich gehe zurück, ohne den Blick abzuwenden, warte, nähere mich wieder, prüfe erneut das Gekrakel aus dem wischfesten Filzstift. Petra fehlt das Verständnis.
„Guck dir den Spruch an!“
Reißt die Mauern
in den Köpfen & auf
den Strassen
ein! Lebt den
„wahren“ Sozialismus
– keine Machtdiktatur
Liebt euch – Seit frei
„Das war ein Wessi“, meint sie.
„Wie kommst du denn darauf?“
„Wegen dem dämlichen Kaufmann-Und-Zeichen und wegen der Orthographie von ‚seit’.“ Sie lacht.
„Warst du schon draußen?“ Ich deute auf den Ausgang.
„Laß uns zusammen gehen! Ich hab’ eine Probe im Theater.“
„Ach machst Du noch so was? Ich hab Dich in Quentin Tarantinos ‚Inglorious Basterds’ gesehen.“
„Du hast mich gesehen?“
„Ja. Diese Wehrmachtshelferin, die mit den zwei Soldaten unten in dem Bierkeller einen säuft.“
Petra lacht. Ich bin natürlich einer von vielen mit meiner Bemerkung.
„Ich kneife doch den einen in die Nase und drehe sie um. Kannste dich erinnern?“
„Klar deutlich. Typische Bewegung für dich.“
„Quatsch! Nein, aber mir war das so peinlich. Zwei Stunden nachdem wir das gedreht hatten, hatte der immer noch eine rote Nase.“
Petra hat diese weltläufige Nachlässigkeit. Ich bewundere sie. Voller Wohlwollen gegenüber dem Stadtradio moderiert sie ab und zu. Ich genieße ihre Umarmung zum Abschied.
Irgendwo müssen die Neonazis sein. Ich gehe in die Richtung. Die Sitzblockierer sitzen immer noch da. Sie rufen keine Parolen mehr. Ich gehe zu der Ausfallstraße, die ohnehin zu meiner Wohnsiedlung führt. Weiter draußen ist die Straße von der Polizei, diesmal in Blau, gesperrt. Effektiv, unüberwindlich auch für Fußgänger. Ich weiche in einen Park aus, gehe quer über die Wiese in Richtung eines städtischen Amtsgebäudes. Davor stehen sie in Reihen auf der Straße, etwa drei bis vierhundert hauptsächlich junge Leute, kaum Glatzen. Sogenannte ,Autonome Nazis‘ sind keine zu sehen. Die linksradikalen Hausbesetzer hatten von ihnen gemunkelt, sie sollten angeblich auch in Schwarz auftreten.
Einige Passanten haben diesen Weg gesucht, um einen Blick auf die Demonstranten werfen zu können. Sperrgitter aus Rohrgestängen und Draht, überdimensionale L-Profile, sind quer durch die Grünanlagen des Parks gelegt. Wenn man sich bis an den Zaun begibt, betritt man den unteren Schenkel des L-Profils und hindert so mit dem eigenen Gewicht die Sperre am Kippen. Unvermittelt dröhnt es: „Die deutsche Jugend marschiert! Die deutsche Jugend marschiert! Die deutsche Jugend marschiert!“
Die Nazidemonstranten skandieren. Sie stehen.