Der Programmchef hatte zu einer Besprechung im kleinen Kreis in eine Kneipe eingeladen. Einen Tag später sollte eine Vollversammlung stattfinden, ein Ereignis, das er gerne vorstrukturierte. Tennessee sollte zum Chefredakteur bestimmt werden, warf ich in diese handverlesene Runde ein. Er übte damals nur stellvertretend die Funktion des Chefredakteurs aus. Für einen neuen fehlte schon seit einiger Zeit die Entscheidungskraft, das Geld oder was auch immer. „Das ist doch kein Zustand, immer in einem Provisorium zu agieren.“ Der Programmchef deutete Schmerzen an.
Tennessee kam aus der Gerber-Szene. Nach der Wende hatte eine Gruppe ein Haus in der Gerberstraße besetzt, ein Ereignis, gegen das weder die Polizei noch der Besitzer aus dem Westen etwas hatte. Die Stadt förderte sogar schon kurze Zeit später das Haus mit enormen Zahlungen. Architekten wurden zur Verfügung gestellt und für sogenannte ‚Maßnahmen’ in dem Haus – gemeint waren erzieherische Maßnahmen oder besser, Entertainment und Animation – wurde die Gruppe der Besetzer mit technischen Geräten und vor allem mit sozialpädagogischer Betreuung ausgestattet. Jugendliche konnten zwischen Workshops in Filmen, in Tonstudioaufnahmen, Kochen, Skate Board fahren, Freeclimbing usw. wählen. Jene, die die Gruppen leiteten, hatten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme-Stellen, so genannte ABM-Stellen.
Von außen hatte die Villa alles, was zu einem besetzten Haus gehörte. Es war mit Graffiti besprüht, Fahnen hingen heraus. Nachts war eine Bar geöffnet, die erst hinter dem letzten Gast geschlossen wurde. Ich hatte die Bar in meiner Anfangszeit oft aufgesucht. Der Arzneimittelgroßhändler, oder ein Bauträger aus einem örtlichen Immobilienmakler-Büro war manchmal hier anzutreffen. Ich erinnere mich, wie ich einen Glenfiddich Single Malt bestellt habe. Ein jugendlicher Kellner, einzelne gefärbte Büschel auf einem sonst geschorenen Haarschopf, hat mir ein dreiviertelvoll gefülltes Wasserglas gebracht. Er hat einen Spottpreis verlangt. Ich habe, ganz Insider in Sachen Hausbesetzung markierend, einen Schein, „Der Rest ist für die ‚Schwarze Hilfe“, auf den Tisch gelegt. Ratlosigkeit im Blick des Kellner-Punks. Na gut, er könnte vielleicht ein Sozialist, der Anarchisten für Spinner hält, sein. „Na denn für die ‚Rote Hilfe“, was aber auch nicht gezündet hat. Der ABM-Barmann, hat sich reingehängt: „Der meint Trinkgeld“. Der Hausbesetzer-ABM-Punk-Kellner hat genickt und hat das Geld genommen.
Feinde gab ’s natürlich auch, die Neonazis. Die tauchten manchmal überraschend auf und dann setzte es je nach Anlass mehr oder weniger Schläge auf der einen oder anderen Seite. Um besser vorbereitet zu sein, waren die Fensteröffnungen im Erdgeschoss zugemauert worden. Es wurde an die Disziplin aller Beteiligten appelliert, doch bitte sofort, wenn Skins oder Neonazis auftauchen sollten – soviel Vertrauen brachte man Väterchen Staat entgegen – die Polizei anzurufen.
In dieser Szene trafen sich zunächst etliche, die an der Wende, so wie sie in den Umbrüchen vor Ort stattgefunden hatte, gehebelt hatten. Nach und nach gesellten sich abgedrehte Intellektuelle, Musiker, Selbstdarsteller, arbeitslose Privatgelehrte, Künstler, ausländische Stipendiaten und Polytoxikomane hinzu. Man lungerte herum, schnorrte. Jeder versuchte in dem anderen einen irgendwie anarchistischen Individualisten zu entdecken.
Die ,Gerber‘, so wurde das besetzte Haus in der Gerberstraße genannt, war, auch wenn es keiner zugegeben hätte, der Treffpunkt der Bohème. Das Haus war besetzt worden. Wer sich hierher begab, nahm für die Zeit, in der er sich hier aufhielt, die Identität eines Hausbesetzers oder doch zumindest eines Punk an. Aus der Gerber oder ihrem Umfeld zu stammen, war eine Auszeichnung. Auch ein Techniker des Radios hatte zu diesem Stamm gehört und viele andere hatten zumindest Berührungspunkte. Tennessee hatte kurz vor der Wende im Knast gesessen, was seinen Außenseiter-Status erhöhte. Es machte eine Art Punk-Fürst aus ihm.
Der Programmchef meinte, Tennessee wäre zu linksradikal für den Job. Ich widersprach. Tennessee hätte eher die Fähigkeit kraft seiner Führungsstärke Disziplin durchzusetzen. Er zeichnete sich nicht im geringsten durch Kollektivismus oder andere linksradikale Merkmale aus, eher hätte er einen Mangel an Teamfähigkeit. Ich umschrieb Tennessees Rolle als Schleifer. Ich hielt diese Schwäche Tennessees für eine Frustration über die ungeklärte Struktur der Redaktion. Ihn mit der Chefredaktion zu betrauen, war ich überzeugt, würde sein Unteroffiziersgehabe abbauen.
Nach einigem Hin und Her und nach seinem ‚Sich – Zieren’ wurde die Entscheidung gefällt: Unter dem Vorbehalt, dass, sobald die Stelle demnächst öffentlich ausgeschrieben würde, er automatisch an die zweite Stelle rückte, wurde Tennessee zum kommissarischen Chefredakteur ernannt.
Ich war froh, mich aus allem Organisatorischen heraushalten zu können. Eines Tages würde es wahrscheinlich in irgendeiner Form ohnehin auf mich zukommen. Ich wollte es wenigstens noch so lange, bis ich einigermaßen die Instrumente in diesem Medium beherrschte, vertagen.
Auf der anderen Seite stand das Radioprogramm, wie es in den Autos, in den Büros in den Küchen zu Hause ankam. Mich erstaunte immer wieder mit welcher Klarheit es dem Chaos und dem Gezerre in der Redaktion gegenüber stand. Das alles hatte, war ich überzeugt, Ansätze mit Möglichkeiten, es weiter zu entwickeln.